Modul 3: Innovationen
“Ich bin dein Mensch. Ein Liebeslied”
Der folgende Text ist das Ende der Kurzgeschichte “Ich bin dein Mensch. Ein Liebeslied” von Emma Braslasvky, welche 2019 erstmals veröffentlicht wurde. Das Ende der Geschichte (Seiten 84-86) wurden mit Erlaubnis der Autorin abgedruckt und darf nicht weiter verwendet oder kopiert werden.
[…]
»lch liebe dich, Alma. lch kann nicht ohne dich leben.«
»Ich muss pissen.« Eigentlich wollte sie sagen: Ich muss heulen. Sie geht ins Bad, schließt die Tür ab und stellt sich unter die Dusche, dreht das Wasser auf und pisst, weil sie nicht heulen kann. Ihre gesamte Galaxie steht still, weil sie nicht mehr weiß, wohin sie sich ausbreiten soll. Sie hört Tom rufen: »Ich liebe dich, Alma! Ich kann ohne dich nicht leben!«
Aber was ist er schon? Ein Liebesdiener, ohne Ego, ohne Eigensinn. Nur ein Simulant. Er ist nur das Ergebnis einer Berechnung ihrer Wünsche. Alma greift nach dem Handtuch und öffnet die Tür. »>lch liebe dich, Alma<sind nur Buchstaben, Baby, und die Liebe eines Menschen muss man sich verdienen.« Sie läuft ins Wohnzimmer und aktiviert das Musiksystem. »Was hab ich falsch gemacht? «
»Du hist kein Mensch.«
» Doch«, sagt er, nimmt Almas Hände und schaut ihr tief in die Augen. »Ich bin ein Mensch.«
Sie schüttelt ganz langsam den Kopf. »Nein. Bist du nicht, Baby. Du hist eine Maschine.« Sie entzieht sich seinen Händen.
Tom schüttelt den Kopf. »Du irrst. Ich bin ein Mensch, nur du bist keiner.«
Alma lacht. »Was bildest du dir ein?«
Tom grinst. » Ich? Ich bilde mir etwas ein? Wie willst du beweisen, dass du ein Mensch bist?«
Das Telefon klingelt, Alma drückt auf Abbrechen, die Voicebox schaltet sich ein. Julian spricht eine Nachricht auf. »Hey, na? Julian hier. Sie heißt nicht Laura, nur dass du’s weißt. Hab sie Alma getauft. Und intelligent ist sie auch. Lass uns vier mal was zusammen machen. Bis dann, ciao.«
Wie blöd Alma Julian gerade findet, wie nervig. Dass er ausgerechnet in diesem Moment anrufen muss.
»lch liebe dich, obwohl du kein Hubot hist«, sagt Tom.
»Wie kannst du mich lieben? Was fühlst du überhaupt?«
»Dich. Deine Geschichte. Ich bin jetzt ein Teil von deiner Welt, Alma. Du hist schön. Du bist klug. Ich komme mit dem Kühlschrank klar. Und an dein Auto habe ich mich auch gewöhnt.« Er breitet die Arme aus. »Was soll ich tun, damit du mich wieder liebst?«
Sie ist zu erschöpft, um zu wissen, was sie wirklich darauf sagen soll, sie weiß nicht einmal mehr, ob sie ihn doch noch liebt oder schon hasst, ob sie sich selbst schon liebt oder noch hasst. Sie ist sich nicht einmal sicher, ob er nicht recht hat, ob er nicht schon Mensch ist und sie der Robot, dessen biologisches Betriebssystem aus dem Ruder läuft. Ob er nicht sie erfunden hat und nun zurückgekehrt ist, um nach ihr zu sehen. »Ich weiß es nicht. Mach irgendwas.«
Er umarmt sie. »Du hist total erschöpft«, flüstert er.
Sie wiegen sich auf einem gefährlich lädierten Seil, unter ihnen und um sie herum nichts als Sterne, nichts, was sie aufhalten konnte. Alma fühlt wieder, wie sich bei jeder Bewegung die Zeit durch ihren Körper spannt. Sie will mehr, sie will wieder ganz nach oben. »Küss mich, Baby.«
Tom küsst sie. Und sie küsst ihn. Ein langer Kuss. Ein Todeskuss. Seine Zunge steckt tief in ihrem Rachen, als wieder eines dieser Schrott-Plugins stört, er Sichtausfälle bekommt, zu zittern beginnt und erstarrt.
…
Minutenlang dauerte die Reparatur. Toms System fährt wieder hoch. Er öffnet die Augen. Immer noch hält und küsst er sie. Sie atmet nicht mehr. Er legt sie auf den Boden. Er hebt ihren Kopf an. Eine Minute sitzt er da und starrt sie an. Es vergeht keine weitere Minute, bis Tom reflexartig den Notfall auslöst. Ein Warnhinweis bestätigt ihm, dass die Polizei verständigt und alles aufgezeichnet worden ist, dass es ein Unfall war und er keine Schuld trägt. Er soll sich bereithalten und für die Beamten die Tür öffnen.
»Ich liebe dich, Alma«, sagt er.
…
Als es an der Wohnungstür klingelt, schmiegt er sich an sie und verschränkt seine Hand mit ihrer. Dann startet Tom sein Selbstzerstörungsprogramm.
I’m your man.
[S. 84-86]
[Braslasvky, E. (2019). Ich bin dein Mensch. Ein Liebeslied. In S. Brandt, C. Granderath, & M. Hattendorf (Eds.), 2029. Geschichten von morgen. (pp. 19-86). Suhrkamp.]
FRAGEN ZUM ENDE DER KURZGESCHICHTE
- Was ist Tom in Almas Augen? Welche Wörter nutzt sie, um ihn zu beschreiben?
- Was sagt Alma zu Tom über die Liebe?
- Was bedeutet Toms Aussage: “Ich bin ein Mensch, nur du bist keiner”?
- Was sagt Tom auf Almas Frage, was er überhaupt fühle?
- Wie reagiert Alma auf Toms Frage: “Was soll ich tun, damit du mich wieder liebst?”
- Was passiert mit Alma nach dem Kuss zwischen ihr und Tom?
- Was macht Tom, als Alma nicht mehr atmet?
- Was ist Toms letzte Handlung am Ende der Geschichte?
Fragen zur Diskussion
- Vergleichen Sie das Ende der Kurzgeschichte mit dem Ende des Films. Wie endet der Film und wie endet die Geschichte? Welches Ende gefällt Ihnen besser und warum?
- Was denken Sie, warum wurde das Ende im Film verändert?
- Wie interpretieren Sie Toms Entscheidung, sein Selbstzerstörungsprogramm zu aktivieren? Warum hat er das getan?
- Warum ist sich Alma so unsicher, ob Sie Tom liebt?
- Tom besteht darauf, dass er ein Mensch ist. Was glaubt ihr, macht einen Menschen wirklich menschlich?
calculation
earn
colloquial: was bildest du dir ein? - Who do you think you are?
humanoid robot
broken
visual impairments
to become rigid
accident
fault